Sedes Sapientiae als Sitz der Weisheit
Die Madonna als Sedes Sapientiae (Sitz der Weisheit) ist eine der zentralen ikonographischen Darstellungen Marias in der mittelalterlichen Kunst, die wohl in der byzantinischen Auffassung ihren Anfang hat. Dieses besondere Motiv der thronenden Jungfrau mit dem Christuskind auf dem Schoß betont ihre Rolle als Mutter Gottes und Verkörperung der göttlichen Weisheit. Derartige Bilder wurden wegen ihrer Andachtsfunktion hochgeschätzt, da sie durch ihre symbolische, frontale Darstellung die Zuwendung des Betrachters sowohl zu Maria als auch zu Christus widerspiegelten. Andachtsskulpturen wie diese dienten oft als Mittelpunkte in Kirchen und Kapellen und luden zu Gebet und Verehrung ein, insbesondere in klösterlichen und religiösen Gemeinschaften wo die Marienverehrung gefördert wurde. Als Sedes Sapientiae wird Maria nicht nur als Mutter, sondern besonders als Thron Christi dargestellt, wobei dies ihre einzigartige Rolle in der göttlichen Ordnung unterstreicht.
Polychromierte Holzskulptur
Diese aus dem Salzburger Raum stammende Madonna aus der Zeit um 1220-1250 ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Tradition der polychromierten Holzskulptur, die in dieser Zeit in Salzburg und den Alpenregionen besonders ausgeprägt war. Das verwendete Material Lindenholz wurde für seine Weichheit und feine Maserung bevorzugt. Es ermöglichte die detaillierte Schnitzerei, die sich in den Faltenwürfen und Gesichtszügen zeigt. Die Polychromie verleiht den Figuren Leben und eine imposante Präsenz, die sowohl den Realismus als auch die Überweltlichkeit der Dargestellten für die mittelalterlichen Betrachter unterstreicht. Dieses Werk schlägt eine Brücke zwischen dem romanischen Stil, der für seine stilisierten und symbolischen Formen bekannt ist, und dem aufkommenden gotischen Naturalismus, der sich durch lebensnähere Figuren und ausdrucksstarke Gesichter auszeichnet. Die überraschend gut erhaltene Oberfläche unterstreicht die Seltenheit und Bedeutung der Skulptur. Aus dieser Epoche eine solch gut erhaltene Fassung zu finden macht diese Sedes Sapientiae zu einer musealen Rarität.
Maria und das Jesuskind im Fokus
Maria ist auf einer thronähnlichen Bank sitzend dargestellt, bekleidet mit einem langen, fließenden Mantel, der über ihr weißes Kleid gezogen ist. Weiß symbolisiert Reinheit und Göttlichkeit. Das Innere des Mantels ist rot, eine Farbe, die oft mit Liebe und Opfer-bereitschaft assoziiert wird, was ihre Rolle als Mutter des Erlösers unterstreicht. Der Kron- reif auf ihrem Kopf bedeckt einen zarten Schleier, der weich über ihre Schultern fällt. Dieses Tuch, kombiniert mit ihrem sanft gewellten Haar, das am Scheitel hervorblitzt, unterstreicht die Würde und Eleganz Marias. Das Jesuskind, ebenfalls in einen weißen Mantel gehüllt, gleich dem Gewand seiner Mutter, verstärkt diese Symbolik zusätzlich. Beide Farben betonen weiters die doppelte Rolle Jesu als göttlich und menschlich. Außerdem verweist das Rot bereits auf die Passion Christi, während das Weiß die Rolle Marias als Königin des Himmels, die der Welt den Erlöser präsentiert, unterstreicht.
Das Christuskind sitzt auf Marias linkem Knie und ist ebenso bekleidet. Vor 1400 wird das Christuskind fast immer in Kleidern dargestellt, um seine sakrale Rolle zu unterstreichen. In seiner linken Hand hält es eine Kugel, die seine Herrschaft über die Welt symbolisiert und ihn als Salvator Mundi zeigt. Seine rechte Hand ist in einer Geste des Segens oder des Redens erhoben, ein Zeichen seiner göttlichen Autorität und Weisheit. Sowohl Maria als auch Jesus sind dem Betrachter direkt zugewandt. Der Gesichtsausdruck von beiden ist offen und feierlich, mit mandelförmigen Augen, schmalen Brauen und sanft lächelnden Mündern. Ihre jugendlich roten Wangen verleihen ihnen einen naturalistischen Charakter, der die Entwicklung des mittelalterlichen Stils hin zu ausdrucksstarken, menschlicheren Figuren zeigt.
Draperie als Stilmerkmal
Die Draperie ist besonders bemerkenswert und verkörpert den Übergang von dem strengen, „nass“ wirkenden Stil der Romanik zur bewegteren Frühgotik. Der Stoff fällt in teigigen Falten, die sich eng an den Körper anschmiegen, die Körperform unterstreichen und gleichzeitig erste Anzeichen von Volumen aufweisen. Der Mantel legt sich in einer bauchigen Falte um Marias rechten Ellbogen, während sich der Stoff an ihren Oberkörper schmiegt und eine weiche Textur suggeriert, die für diese Epoche charakteristisch ist. Unterhalb der Taille wird der Stoff linearer und fällt in geradlinigen, parallelisierenden Falten, die Gewicht und Bewegung suggerieren. Dies zeigt sich beispielsweise an Marias rechtem Knie, wo sich der Stoff auf naturalistische Weise zusammenzieht.
Kulturelle Netzwerke: Steiermark – Salzburg – Böhmen
Vergleichsstücke aus dieser Zeit verdeutlichen die Verflechtung von Salzburg, Böhmen und den umliegenden Regionen. Eine sehr verwandte Madonna im Prager Nationalmuseum, die nach Prag in die Jahre 1220-1250 datiert wird, weist nahezu identische kompositorische Details auf: Maria und Jesus haben die gleiche Sitzposition und die bauchige Falte um Marias Ellbogen sowie ihr hervorstehendes Knie entsprechen denen der Salzburger Madonna. Jedoch weicht die Prager Madonna in ihren Gesichtszügen von dieser Figur ab. So orientiert sich ihre Kopfgestaltung eng an dem regionalen Stil aus dem Alpenraum, wie man sie bei der Mariazeller Madonna in der Steiermark – dem bedeutenden Wallfahrtsort, wo die Madonna, aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, als „Magna Mater Austriae“ (Große Mutter Österreichs) verehrt wird – veranschaulichen kann. Dieser steirische Madonnentypus beeinflusste die Darstellungen in Salzburg und unterstreicht die enge historische Beziehung zwischen den Regionen. Ziehen wir diesen stilistischen vergleich heran, so ist eine Entstehungszeit um oder vor 1200 möglich.
Die Verbindung zwischen Salzburg und der Steiermark wird auch durch die Gründung des Bistums Seckau unter dem Erzbistum Salzburg im Jahr 1218 unterstrichen, das einen kirchlichen Einfluss ausübte, der den kulturellen Austausch förderte. Auch der langjährige Salzhandel Salzburgs mit Böhmen, der unter Erzbischof Adalbert III. im späten 12. Jahrhundert aufblühte, förderte sowohl den wirtschaftlichen als auch den künstlerischen Austausch zwischen den Regionen. Die Verbindung zwischen Salzburg und Böhmen war im frühen 13. Jahrhundert in wirtschaftlichen, politischen und religiösen Beziehungen tief verwurzelt, wobei der Salzhandel als zentrales Bindeglied diente. Salzburgs reichhaltige Salzbergwerke, vor allem die in Hallein am Dürrnberg, waren eine wichtige
Ressource für die Region, da Salz aufgrund seiner Bedeutung für die Konservierung und Würzung von Lebensmitteln als „weißes Gold“ galt. Dieser Rohstoff verhalf den
Salzburger Erzbischöfen zu Reichtum und politischer Macht, da sie die Bergwerke
kontrollierten und dadurch immense wirtschaftliche Vorteile erlangten. Die Salzach war die Hauptverkehrsader für den Transport dieser wertvollen Ressource nach Norden und Osten, erreichte Böhmen und verband Salzburgs Einfluss mit Mitteleuropa. Die Kaufleute, Handwerker und Geistlichen, die entlang dieser Routen reisten, brachten Waren, Ideen und Kunststile mit. Dieser Austausch zeigt sich in ähnlichen religiösen Kunstwerken, einschließlich Madonnenskulpturen, die in Salzburg und Böhmen ähnliche stilistische und ikonografische Merkmale aufweisen und dadurch ihr gemeinsames religiöses und künstlerisches Vokabular widerspiegeln.
Die politischen Beziehungen zwischen Salzburg und Böhmen waren ebenso bedeutsam. Das Erzbistum Salzburg besaß eine bedeutende kirchliche Autorität, und sein Einfluss erstreckte sich oft auf benachbarte Regionen wie Böhmen, wodurch wichtige Netzwerke für die Verbreitung religiöser Praktiken und künstlerischer Stile entstanden. Diese Verbindungen waren nicht nur kirchlich begründet, sondern wurden auch durch Bündnisse zwischen den Herrscherfamilien gefördert. Eheschließungen und diplomatische Abkommen zwischen den Salzburger Erzbischöfen und den böhmischen Herrschern verstärkten diese Bindungen und förderten den Austausch von Ideen zwischen den beiden Regionen. Jene Verflechtung wurde in späteren Jahrhunderten mit der internationalen Gotik noch deutlicher. Diese Madonna, die den sogenannten „Schönen Madonnen“ des späteren Internationalen Stils vorausgeht, ist eine der frühesten Skulpturen, die von den kulturellen Verbindungen zwischen Salzburg und Böhmen zeugen – ein Beweis für den künstlerischen und religiösen Dialog, der durch die Handelswege und die gemeinsamen kirchlichen Grenzen jener Zeit florierte.
Literatur:
Hans Belting, Likeness and Presence. A History of the Image Before the Era of Art. Chicago 1994.
Ilene Forsyth, The Throne of Wisdom. Wood Sculptures of the Madonna in Romanesque France, Princeton 1972.
Fritz Koller, „Die Salzachschifffahrt bis zum 16. Jahrhundert“, Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 123 (1983), S. 1-126.
Fritz Koller, Salzgewinnung und Salzhandel unter den Erzbischöfen“, in: Salzburger Landesausstellungen (Hrsg.), Salz. Ausstellungskatalog der 7. Salzburger Landesausstellungen, Salzburg 1994, S. 128-147.
Fritz Koller, „Salzhandel im Alpenraum“, in: Geschichte des alpinen Salzwesens. Vorträge der Tagung des Geschichtsausschusses der Gesellschaft Deutscher Metallhütten- und Bergleute in Berchtesgaden, Oktober 1980, Wien 1982, S. 119-132.