MADONNA Îl DE FRANCE


Madonna Îl de France/Paris
Um 1270

Eichenholz geschnitzt
Höhe 78 cm

Diese meisterlich ausgeführte, sehr gut erhaltene Skulptur der Madonna stammt aus der 
Île-de-France und entstand um 1270. Sie ist aus Eichenholz geschnitzt und 78 cm hoch. Die Figur ist rückseitig in gerader Form gehöhlt, ein markantes Indiz für die frühe Datierung in die Zeit von 1260-80. 

Maria steht im Ausfallschritt auf einer massiven Standfläche, wobei das rechte Knie, das als Spielbein leicht angewinkelt ist, unter dem Mantel sichtbar wird. Der diagonale Faltenwurf betont den schlanken Höhenzug der gelängten Muttergottes, die mit dem linken Arm ihr Kind an sich gedrückt hält. Das Jesuskind, typischerweise bei Figuren des 13. Jahrhunderts bekleidet, ist der Mutter keck zugewandt und blickt zu ihr hinauf, wobei sich die Blicke von Mutter und Kind in einem stillen, innigen Austausch treffen. Besonders einprägsame Merkmale der Physiognomie sind die länglichen, mandelförmigen Augen, die scharfen Grate der Augenbrauen, die nahtlos in den geraden Nasenrücken überlaufen und der zu einem leichten Lächeln verzogene Mund mit tiefen Grübchen über einem schmalen, V-förmigen Kinn. Es ist ein intimer Moment zwischen Mutter und Kind dargestellt: Maria hält den nackten Fuß ihres Sohnes mit der rechten Hand fest. Gleichzeitig präsentiert das Jesuskind die nackte Fußsohle seines rechten Fußes. Dies zeigt nicht nur die tiefe Beziehung zwischen Maria und Jesus, sondern ist auch ein Verweis auf die menschliche Seite Christi. Diese Geste mag wohl in theologischer Auslegung die Fleischwerdung Christi symbolisieren.

Der Typus dieser Madonnenfigur entstand ursprünglich aus der französischen Monumentalskulptur der Mitte des 13. Jahrhunderts. Vergleichbar sind die Gesichtsphysiognomie und die Behandlung der Draperie der Skulpturen an der Westfassade der Kathedrale von Reims oder auch die Jungfrau am Nordportal von Notre Dame de Paris.

In ihrer feinen Schnitzkunst ist unsere Madonna stilistisch mit der sogenannten Vierge d’Abbeville aus dem Louvre vergleichbar, die ebenso um 1270 entstanden ist und auch aus Eichenholz geschnitzt wurde. Deren Entstehung wird allerdings in der nördlicheren Provinz Picardie lokalisiert (RF 1449). Auffallende stilistische Merkmale beider Figuren sind das enganliegende Gewand am Oberkörper, der teigige Faltenwurf, die diagonal in voluminösen Faltenbäuschen herabfallenden Schüsselfalten und die flach am Boden aufliegenden Säume des Kleides. Ebenso sind das gefältelte Tuch über Marias Kopf und die fein ausgearbeiteten Haupthaare klare Merkmale dieser Zeit und zeugen von höchster Qualität sowie vom großen Talent des ausführenden Meisters der Bildhauerkunst. Die dynamisch-gebogene Haltung Marias und das spielerische Überkreuzen der Beine des Jesuskindes entstammen ebenso demselben Typus. Jedoch ist bei der Il-de-France Skulptur der Fokus der feinen, inniglichen Ausführung ein anderer, nämlich die liebliche Zuwendung von Mutter und Kind, deren Gesichter durch eine gerade Blickachse miteinander verbunden sind.


Eine aus Holz geschnitzte Figur mit sehr verwandter Haltung und ähnlichem Faltenwurf, die der Gegend um Paris um 1270 zugeschrieben wird, befindet sich heute im Palais des Beaux-Arts de Lille, jedoch in einem weitaus schlechteren Erhaltungszustand sowie in einer typologisch anderen, distanzierten Haltung von Maria und dem Jesusknaben.

Ein frühes kleinplastisches Vergleichsbeispiel ist aus Elfenbein; die sogenannte,30 cm hohe, Dormeuil-Madonna, die im Jahr 2007 bei Sotheby’s um 1.488.250 €. verkauft wurde. Die zärtliche Zuwendung zwischen Mutter und Kind ist durch die Haltung der Figur akzentuiert, wobei die stilisierten, parallelen Schüsselfalten der Biegung des Stoßzahnes folgen und der Figur dadurch eine anmutige Eleganz verleihen. Der Faltenwurf betont das Spielbein Marias sowie den Höhenzug der Figur.

Im Jahr 2010 wurde bei Christie’s eine ähnliche Pariser Figur aus Elfenbein, die zwischen 1250 und 1280 datiert, verkauft, mit vergleichbarem kurzem Schleier, durch Schüsselfalten exponiertem Spielbein, diagonaler Borte und mit innig-zugewandter Haltung des Kindes.     

Die fein ausgeführte Elfenbeinmadonna von Sainte-Chapelle, heute im Louvre (OA 57), datiert zwischen 1260 und 1270 weist starke stilistische und typologische Ähnlichkeiten zu unserer Skulptur auf, sowohl in den Falten des kurzen Schleiers, der drei enganliegenden Schüsselfalten mit stark gebauschten Faltengraten um die Hüfte Marias und der in teigiger Manier am Sockel aufliegenden Draperie.

Weitere frappierende Ähnlichkeit hat unsere Madonna mit einer um 1260-70 in Paris geschnitzten Elfenbeinfigur aus dem Metropolitan Museum of Art (17.190.175). Trotz der materialtechnisch divergierenden Unterschiede ist auch hier die Ausführung des Faltenwurfs, der Haarpracht, des V-förmigen Gesichtstypus und der zugewandten Haltung zwischen Maria und Kind äußerst ähnlich. Während das Kind aus Elfenbein die linke Hand nach dem Kinn der Mutter ausgestreckt hat und so Kontakt mit ihr aufnimmt, zeigt unser hier präsentiertes Werk eine noch innigere Beziehung zwischen Mutter und Kind.

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